Zu Fuß in Italien 2023 — Das Notizbuch

A PIEDI — ZU FUSS IN ITALIEN
 

Die Notizen einer Wanderung von Castel del Monte in den Abruzzen nach Campobasso im Molise
 

Montag, 28. August, Castel del Monte nach Barisciano

Letztes Jahr wanderte ich die Strecke von Castel del Monte nach Santo Stefano zum ersten  Mal. Ich ging alleine. Heute sind wir zu viert. Die gar nicht neue Erkenntnis: Alleine dauert es länger. Vier Leute reden viel und die Zeit vergeht schneller. 
Im Dorf laufen wir die Hauptstraße lang, überraschen Marcello von der ›Osteria del Lupo‹, als er gedankensinnig am Randstein sitzt und in sein Handy tippt. Kaufen im Alimentari acht Bananen und steigen den Pfad zur Piana San Marco hinab. An der Schäferei von Danilo und Renato Mucciante biegen wir rechts in einen Feldweg ab, weil wir den grauen Wolken am Himmel und dem kräftigen Wind nicht trauen. Es würde regnen, versprechen unisono alle Wettervorhersagen und so entscheiden wir uns für die kürzere Strecke nach Santo Stefano. Heerscharen von Schmetterlingen flattern vor uns auf und ihre Farbfetzchen begleiten uns Kilometer für Kilometer, ein Eichelhäher fliegt schreiend aus dem Gebüsch. Auch ein Reh nimmt Reißaus und springt in großen Sätzen über das Feld. Hagebutten, Brombeeren, Silberdisteln, wilde Möhren zuhauf. Rupert meint mit Blick auf die grauen Wolken und das Wetter: »Das hält«, aber als wir schließlich den Wiesenhang zum Kamm des Höhenzugs hochsteigen, fängt es doch an zu regnen. Schwere Tropfen fallen und der Wind peitscht gegen unsere Schirme. Zum Wiesenaroma, geprägt von Thymian und Salbei, kommt der Duft des Regens. 
In Santo Stefano klopfen wir bei Peter und Änne und schauen durch das Türglas, obwohl wir wissen, dass sie am Meer Rad fahren wollten. Die Faema E 61 leuchtet aus dem dunklen Raum. Manchmal sprechen Kaffeemaschinen für sich. Es gibt Menschen, die sich auf den kleinen Bialetti-Kochern ihren Espresso zubereiten, bei Peter und Änne steht altargleich eine technische Legende an zentraler Stelle neben dem großen Esstisch. Der Rest ist schnell erzählt. Man sieht es der Landschaft noch immer an, dass die Schafwirtschaft fast zweitausend Jahre lang die wichtigste Erwerbsquelle war. Tränken am Wegesrand, Kirchen am Beginn der Schafwege, die Morphologie des Landes zeugt noch heute von der Beweidung. Und — welch großes Glück, in jedem guten Lokal stehen Lammbraten, Arrosticini, mit Ricotta gefüllte Ravioli auf der Karte, auch wenn die Bars in den Dörfern weniger und die Ruhetage der verbliebenen Lokale mehr werden. Der Tag war schön, wir kommen früher an als gedacht und unsere Eindrücke sind wie erwartet überwältigend. In einer Dreiviertelstunde gehen wir hinunter zum Abendessen.

Dienstag, 29. August, Barisciano nach Terranera

Beginnen wir mit dem Hotel von gestern auf heute, denn die Eindrücke sind noch frisch. Die Lage des Hauses hat mich seit Aufnahme meiner Gran Sasso-Reisen daran gehindert, nachzufragen, ob das Etablissement etwas für meine Gruppen wäre. Es liegt in einer Krümmung der stets stark befahrenen Hauptstraße nach L’Aquila. Hier dem Verkehrsgetöse zu entfliehen, erschien mir als Ding der Unmöglichkeit, denn alle Fenster schauen, ob nach links oder rechts oder vorne, auf die Straßentrasse. 2009 aber, als wir hier im kleineren Kreis eine Konferenz abhielten, um über den Einsatz von Spendengeldern für die Erdbebenopfer zu beraten, war ich wegen der Qualität des Essens und der Atmosphäre im Restaurant positiv überrascht. Für unsere jetzige Wanderung ist die Herberge alternativlos, weil sich Strecken zu Fuß nicht beliebig verlängern lassen. Freund Ingo erzählte, dass sie mit den Fahrrädern irgendwo im Norden Russlands unterwegs waren und am vorgesehenen Tagesziel erfuhren, dass die nächste Möglichkeit zur Einkehr und Übernachtung erst nach weiteren 50 Kilometern gegeben sei. Mit den Rädern mag das vielleicht möglich sein, aber in den ländlichen Diasporen Mittelitaliens bei vergleichbarer Informationslage noch 15 Kilometer in ein anderes Dorf zu wandern, stelle ich mir einigermaßen ungemütlich vor. Also Barisciano. Das Abendessen ist fantastisch gut, wenngleich die beiden jungen Kellnerinnen wirken, als würden sie für das Sportabzeichen im Sprinten trainieren. Gerade, dass sie uns  die Teller nicht unter dem letzten Löffel wegziehen. Und die Bitte, nach dem Primo und vor dem Secondo ein bescheidenes zehnminütiges Päuschen einzulegen, verfängt sich wohl im Ohr der einen, erreicht aber nicht die Küche, wo die Teller belegt werden. Es gibt Nudeln mit Bacalao und schwarzen Oliven und anschließend ein Tris von diesem wunderbaren Fisch, dessen Haltbarmachung schon die Wikinger übten und der dann über Portugal und Spanien die Küche weiterer Mittelmeerländer bereicherte. Der in den Meergründen der norwegischen Lofoten gefangen und getrocknet und in den Abruzzen wieder gewässert und zubereitet wird. Wir kennen ihn als Kabeljau. Dazu ein annehmbarer Tischwein und das wonnige Gefühl, unter fünfzig schnabulierenden und genießenden Italienern zu sein. Was wir bereits am Sonntagabend in Castel del Monte erlebten, ereignet sich auch hier. Ein voller Speisesaal macht froh. Das Frühstück heute Morgen allerdings hält nicht, was das Abendessen versprach. Verpacktes. Zwiebäcke und Kekse. Sehr italienisch. Zum Glück lässt sich die albanische Hausdame überreden, uns Brot, Käse und Tomaten zu servieren, obwohl ihre Betrachtung der Deutschen wegen der Erfahrungen ihres Bruders durchaus restriktiv klingt. Der Bruder hätte in Schweden, Griechenland und unter den Deutschen gearbeitet, doch nur in Germania hätte ihn die Bürokratie wieder vertrieben. Wir machen uns auf den Weg, vollständig gegen den Regen geschützt — der dann gar nicht fällt. Es bleibt schön. Auf dem ersten Stück Teerstraße, im Hohlweg ins Tal, auf dem langen Stück Wanderweg, der die Trasse des berühmten ›Tratturo Magno‹ nutzt, auf dem früher die Schafe in Richtung Apulien getrieben wurden, in San Demetrio, wo wir Mittag machen, auf dem herrlichen Feld- und Wiesenweg nach Stiffe und schließlich bei den siebenhundert Höhenmetern Aufstieg nach Terranera. Dort holt uns Sabatino vom Hotel in Ovindoli ab. Zum Glück, denn es ist bitter kalt geworden auf der Hochebene, auf der wir bis übermorgen Früh bleiben werden. Jetzt aber wartet im Restaurant im ersten Stock ein gedeckter Tisch auf uns. Es soll Spaghetti alla Chitarra mit Wildschwein-Sugo und danach Corniglio alla Cacciatore geben. Was wollen wir mehr?

Mittwoch, 30. August, Terranera nach Ovindoli

»Slow down«, begrüßt uns die Polizistin an der Hauptstraße in Terranera und lacht über das ganze Gesicht. Ein Techniker kniet neben ihr und richtet eine mobile Radarfalle ein, als ihr wir vier wandernden Männer entgegen kommen. Wir grüßen zurück, ebenfalls scherzend, weil die Situation so komisch ist. 
Terranera war unser gestriger Zielort, an den uns Sabatino heute Morgen zurück bringt, damit wir unsere Tour fortsetzen können. Das kleine Dorf liegt auf der Hochebene ›Altopiano delle Rocce‹ und trennt die Gebirgsmassive des Velino und des Sirente. Drei langgezogene Bergwiesen, die einst die Weideflächen für abertausende von Schafen darstellten, ziehen sich von Terranera über Rocca di Mezzo und Rovere nach Ovindoli. An beiden Enden fällt das Gebirge steil ab. Wir durchquerten gestern den Aquilano mit dem Aterno-Fluss und stiegen den steilen Pfad durch den Laubwald bis Terranera hinauf. Über dem Altopiano erheben sich nordöstlich der Sirente und südwestlich der Velino mit Höhen um die 2500 Meter. Kalt ist es dort oben, wenn Ende August der kurze Sommer zu Ende geht, und auch im Frühjahr dauert es lange, bis sich die Wärme einstellt. Die Botanik hingegen hält unzählige Hotspots bereit. Nicht nur das Seitental des Prato d’Arano wirkt Ende Mai wie ein Meer von Narzissen, Trollblumen, Wildtulpen und unzähligen Orchideen, dazwischen recken sich Wiesenknöterich und der eingewanderte Affodil. Rocca di Mezzo richtet alljährlich um diese Zeit sein Narzissenfest aus, das auf pagane Kulte* zurück geht. Die imposante Blüte der Dichternarzisse ist Symbol des Ortes und die Kalksteinskulptur eines Narzissenstraußes steht inmitten des Kreisverkehrs an der Straße nach Rovere. 
Noch heute spielt hier die Agrarwirtschaft eine wichtige Rolle, wie die vielen runden Heuballen verraten. Wir kommen an einer Kuhherde und einer großen Menagerie mit Pferden vorbei. Nach Rovere wird der Wind heftig. Von Süden her presst er sich gegen uns, es ist kalt, unwirtlich, Wolken drücken herunter und wir wollen baldmöglichst zurück in Ovindoli sein. Morgen geht es die steile Bergflanke hinab, wir werden Celano passieren und am Rande des Fucino, einem einstigen See, dessen flache Mulde heute landwirtschaftlich und baulich genutzt wird, in Richtung Pescina wandern. Die Strecke wird sich ziehen und wir werden genauso langsam vorankommen, wie die Polizistin es uns zugerufen hat.

*Bevor sich das Christentum in Mittelitalien ausbreitete, konnten (auf der adriatischen Seite) die italischen Ethnien ihre Kultur entwickeln. Die Völker der Vestiner, Frentaner, Marsen, Peligner, Picener, Samniter … Zeugnisse aus jener Zeit, wie die sog. Göttin von Rapino, eine kleine Bronzestatue, die eine Frau darstellt, welche einen Teller mit einer Getreideähre trägt, legen matriarchalische Strukturen und Fruchtbarkeitssymbole nahe. Monotheistische Religionen waren noch unbekannt. Heidentum oder Paganismus bezeichnet religionsgeschichtlich aus christlicher Sicht den Zustand, nicht zu einer der monotheistischen Religionen zu gehören. Viele sakrale Orte und Riten aus dieser Zeit wurden umgewidmet, aus einst italischen Kultorten entstanden christliche Stätten. Beispiele sind die Kirchen S. Giovanni in Venere (die auf einem Venustempel errichtet wurde) oder S. Clemente a Casaurea. (Der Name beinhaltet die Bezeichnung »Goldenes Haus«.) Auch viele Volksfeste in den Abruzzen gehen auf Riten in früheren Zeiten zurück.
Mir gefällt der Begriff ›heidnisch‹ nicht, weil er einen zu negativen Klang hat, und bevorzuge als zurückhaltendere Umschreibung das Wort pagan. Was berechtigt uns, Völker der Antike als Heiden zu bezeichnen?
 

Donnerstag, 31. August, Ovindoli nach Pescina

Wir wandern entlang des Ufers eines Sees, den es nicht mehr gibt. Es wollten bereits die Römer den Fucino austrocknen, um neues Kornland zu gewinnen. Sie scheiterten zweimal. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde die romantische Berglandschaft zwischen Pescina und Avezzano ihres Spiegelbildes beraubt. Der römische Bankier Torlonia investierte in Ingenieurskunst und durfte das gewonnene Land verkaufen. Der deutsche Reiseschriftsteller Ferdinand Gregorovius hielt sich, während die Wasserlinie sank, in der Gegend auf. In einem Gasthaus bestellte er demonstrativ Fisch. »Was scheren uns die Fische«, rief die Wirtin, »wenn wir jetzt Brot und Kartoffeln gewinnen«. Heute ist der einstige drittgrößte Binnensee Italiens eine landwirtschaftliche und technologische Nutzfläche. Nicola, der vormalige Hotelier in Ovindoli, schwärmte von den Feldfrüchten, die im Fucino geerntet werden und zeigte mir stolz seinen Kartoffelkeller. Uns ist nicht nach Gregorovius, doch auf der Piazza in Celano kehren wir ein, kosten das Geräucherte, das Rupert als Proviant mitführt (das Schneidbrettchen eine Gabe der Bayerischen Staatsforsten), trinken ein Glas Wein dazu und stellen uns schließlich an der Eistheke an, bevor wir der kerzengerade nach unten führenden Route zum Fucino folgen. Wie erwähnt, hat die Gegend Anteile ihrer Romantik opfern müssen und weil unsere Route durch viel gewerbliches Brachland führt, vorbei an öden Agrarbauten und ein Stück neben der Autobahn nach Rom, üben wir uns in Demut. Uns freut der Schatten von Bäumen, wenn sie unseren Weg säumen, wir laben uns kilometerlang an den Brombeeren mit ihren schwarz glänzenden Augenknöpfen und sind erleichtert, als die Häuser von Pescina allmählich näher rücken. Es ist staubig und heiß. In der Bar einer Tankstelle hätten wir gerne gerastet. Ein Blatt Papier im Fenster der verschlossenen Türe kündet die baldige, nein, die sofortige Rückkehr des Tankwarts an. Wir ahnen, dass mit seinem ›torno subito‹ nicht der heutige Tag gemeint sein muss. Die Zapfsäulen lassen sich mit Kreditkarten aktivieren, es braucht die menschliche Arbeitskraft gar nicht. Es ist eine Szenerie wie in einem modernen Western. Zwei Motorroller und ein wieder davon fahrender Personenwagen, sonst keine Kundschaft. Wim Wenders hätte hier drehen können, damals, als ›Im Lauf der Zeit‹ in die Kinos kam. Ein anstrengender Tag und dennoch wundervoll. Die Sonne scheint, es ist wieder warm geworden und wie leicht ist es doch, an einem Tag eine Strecke zu gehen, die mit dem Auto (oder dem Reisebus!) leicht in einer Stunde zu bewältigen ist.

Freitag, 1. September 2023, Ein Tag in Pescina

Er musste ins Exil, ging als junger Mann in die Schweiz, schrieb Romane auf Italienisch, die ins Deutsche übersetzt wurden und zunächst in dieser Sprache erschienen. Später, viel später, ließ man die Bücher rückübersetzen und sie konnten endlich in Italien erscheinen. Der Schriftsteller kehrte als Erwachsener in sein Heimatland zurück. Er lebte in Rom, seinem Heimatdorf am Fucino war er suspekt. Vielleicht, weil er sich als Kommunist ohne Partei und Christ ohne Kirche bezeichnete, wahrscheinlicher, weil er ein Buch geschrieben hatte, das in der Gegend seiner Kindheit spielt — in jenem Pescina, in dem wir heute unseren Rasttag verbringen. ›Fontamara‹ gilt als das wichtigste Werk Ignazio Silones. Es ist die Geschichte eines Dorfes, das zusehen muss, wie ein mächtiger Bankier Großes plant. Er durchsticht den Berg und lässt das Wasser des Sees in den Liri-Fluss abfließen. Das Land, das die Menschen im Dorf seit jeher bewirtschafteten, wird verkauft. Es ist ihnen nicht verwehrt, Anteile zu erwerben, doch das dafür notwendige Geld haben sie nicht. ›Fontamara‹ wurde in 29 Sprachen übersetzt und verfilmt. Und Ignazio Silone steigt Jahre nach seinem Tod, spätestens, als das Dorf mit Kongressen, Vorträgen, Lesungen und Exkursionen seinen 100. Geburtstag feiert, im sozialen Ranking auf. Der einstige Nestbeschmutzer wird zur Überfigur. Endlich. Denn Silone ist nicht nur der größte Dichter der Abruzzen, sondern auch einer der großen Schriftsteller Italiens. (Zudem mit ethisch-moralischer Integrität ausgestattet, die der andere berühmte Abruzzese, der Literat Gabriele d’Annunzio, ein Leben lang vermissen ließ.) Im Geburtshaus Silones, in der Via Umberto I. hat Pescina ein prächtiges Museum eingerichtet, voll mit literarischen und biografischen Zeugnissen, mit Originalmöbeln, die seine Frau Darina der Gemeinde vermachte, mit allen Fontamara-Ausgaben in den publizierten 29 Sprachen und mit den Preisen und Auszeichnungen, die er bekam. Die vielleicht ehrenvollste ist die Anerkennung Israels als ›Gerechter unter den Völkern‹. Silone blieb sein Leben lang einer, dessen Haltung vom Streben nach Demokratie und Frieden geprägt war und von der Freundschaft der Völker. Ich kannte von früher nur das ›Centro Studi‹, eine Forschungseinrichtung in Pescina, die sich mit seinem Leben und Werk beschäftigt. Nun ist mit dem ›Museo Casa Natale Ignazio Silone‹ ein öffentliches und authentisches Museum geschaffen worden, ein, gemessen an großen Kulturbauten, kleines Haus, das für mich jedoch zu den herausragenden Sammlungen von Kulturgütern in den Abruzzen zählt. Unsere eineinhalb Stunden, die wir dort verbrachten, waren bereichernd und ich weiß, dass ich mit Gruppen dort wieder kehren werde.

Samstag, 2. September, Pescina nach Gioia dei Marsi

Die Bärin Amarena, ein ebenso bekanntes, wie spektakuläres Tier im Gebiet des Abruzzen-Nationalparks, wurde von einem Jäger am Abend des vorgestrigen Donnerstags erschossen. Der Jäger fühlte sich bedroht. Ich hätte mir trotz aller Sentimentalität, hervorgerufen durch die Erinnerungen seit 1986, als wir zum ersten Mal in die Abruzzen fuhren, angenehmere Umstände gewünscht, als wir sie jetzt haben. Andererseits ist die Situation durchaus verwandt mit den Jahren 1994/95. Damals ging es um einen Menschen, der im Fokus der organisierten Naturfeinde stand. Wir lernten Franco Tassi im Mai 1984 kennen, als wir (Hermann war damals auch dabei) in die Abruzzen fuhren, um die erste Abruzzen-Reise des Bund Naturschutz Bildungswerkes, dessen Geschäftsführer ich war, vorzubereiten. Nach Aufenthalten in L’Aquila, im Gran Sasso, im Sirente und in Rom, wo wir Astrid Fischer von unserer Partnerorganisation ›Amici della Terra‹ trafen, fuhren wir weiter nach Pescasseroli. Tassi war der schon damals legendäre Chef des Nationalparks Abruzzen, Latium und Molise, seit 1969 im Amt, studierter Wirtschaftswissenschaftler und Jurist. Als Kind hatte der sich einen Ausflug in den Nationalpark Abruzzen gewünscht und anlässlich seiner Erstkommunion erfüllte ihm sein Großvater diesen Wunsch. Etliche Jahre später konnte er Passion und Profession vereinen, als er die Leitung des Parks übernahm. Das Besondere an den über dreißig Jahren seiner Amtszeit war, dass er seine Aufgabe, die wunderbare Natur dieses Gebiets zu schützen, von Anfang an Ernst nahm, keine Kompromisse machte, nicht korrupt war, auch wegen seiner Ausbildung wehrhaft sein konnte und sehr gute Ideen hatte, dem Nationalpark Abruzzen Erfolge zu bescheren. Allzuviel war in den Jahren seit Gründung des Parks geschehen, was einem Schutzgebiet nicht gut anstand. Schwarzbauten en masse, Günstlings- und Vetternwirtschaft aller Orten, zu viele sahen den Nationalpark als Erwartungsland für eigene Bauplanungen. Sehr unbeliebt machte sich Tassi, als er eine illegal errichtete Feriensiedlung in einer der schönsten und ruhigsten Zonen des Parks, in der ›Cicerana‹, juristisch angriff und schließlich mit Bulldozern einebnen ließ. Sein einziger Nachteil, wenn man es so bezeichnen will, war, dass er parteilos agierte, also kein Mitglied einer der großen oder kleinen politischen Strömungen war. Er hatte somit keine Verbündeten hinter sich, abgesehen von den Naturschutzverbänden, vor allem des WWF Italia. Nun geschah es aber, dass Silvio Berlusconi an die Macht kam. Den Medienunternehmer aus Mailand hatten seine Einflüsterer auf die renitente Figur in Pescasseroli hingewiesen und es war zu erwarten, dass Tassi den Privatisierungs- und Neuverteilungsideen der neuen Regierung etwas entgegensetzen würde, sollte der Nationalpark Abruzzen betroffen sein. Als ersten Schritt wurden die öffentlichen Gelder aus Rom, die dem Park gesetzlich zustanden, eingefroren. Das war misslich, weil der Park Löhne und Gehälter, ebenso wie Pachten zahlen musste. Und die Stimmen aus Rom flüsterten und wurden lauter, dass sie nicht nur Gelder zurückhalten, sondern auch die unliebsame Person von der Spitze des Parks vertreiben wollten. Zu den vielen, die Solidarität mit Franco Tassi übten, gehörten auch wir vom Bund Naturschutz. Hubert Weinzierl, der damalige Verbandspräsident des BUND, schrieb besorgt nach Rom. Die Unterstützung wurde international. Schließlich fiel die Regierung — sicherlich nicht wegen unserer Proteste. Damals gelang es Berlusconi nicht, was er fünf Jahre später konsequent betreiben sollte: Italien mit den Mitteln des Populismus zu verändern. Für uns aber war es die Zeit der neuen Freundschaften: Mit Franco Tassi, mit Mario Pellegrini, Angela Natale und Giuliano Di Menna. Das Schöne und Gute ist, die Freundschaften sind immer noch beständig und entwickeln sich fruchtbar weiter. Dafür bin ich sehr dankbar.
Morgen werden wir auf einem langen und viele Höhenmeter ansteigenden Weg nach Pescasseroli wandern, durch die Landschaft ›La Cicerana‹ und auf Pfaden, die wir 1994 zum ersten Mal gegangen sind.
 

Sonntag, 3. September, Lecce nei Marsi bis Pescasseroli

Nach einer sehr langen Tour mit tausend Meter Anstiegen erreichen wir Pescasseroli am späten Nachmittag. 21 Kilometer liegen hinter uns, zwei Schluchten, eine halbstündige Verirrung ins Bachbett, sehr alte und majestätische Bäume, Hochtäler, ein Füllhorn von Schmetterlingen und Schrecken. Hermann hat sich als Spezialist für das Aufspüren von Gottesanbeterinnen (Mantis religiosa) entpuppt – kein Wunder, seine Arbeitgeberin ist die katholische Kirche. 
 

Montag, 4. September, Pescasseroli nach Civitella Alfedena

Vielleicht muss er für seine Wildheit büßen. Es geht um den Sangro, den zweitgrößten Fluss der Abruzzen. Er entspringt in der Gegend des Passo Diavolo, ganz in der Nähe des Ortes, an dem wir bei unseren Gruppenreisen den Bus stehen lassen und uns in Richtung Monte Marcolano aufmachen, um zu wandern.
In den Wiesen oberhalb von Pescasseroli wird er von kleinen Wasserzuläufen aus Quellen und Rinnsalen gespeist, bis er den Hauptort des Nationalparks erreicht, wo er sich gut einen Kilometer lang durch gemauerte Uferbefestigungen zwängen muss. Gleich hinter dem Dorf beginnt der schönste Abschnitt seines Oberlaufs. Weite Wiesen dehnen sich aus, links ruht das mächtige Massiv des Monte Marsicano, rechts werden die Auen von dichten Buchenwäldern begrenzt. Links kommt das wie auf einem Schiffsbug thronende Dörfchen ins Blickfeld und rechter Hand öffnen sich zwei Täler. Zunächst das Val Fondillo, das sich bis zum Bärenpass hinauf zieht. Schließlich der Zugang zur Camosciara. Das Areal muss erst das Spektakel eines Freizeitparks ertragen, bevor wieder Ruhe herrscht und sich eines der schönsten Panoramen des Nationalparks präsentieren darf. Es sind nicht allein die Kammlinien der Berge, sondern die Übergänge der Waldzonen in Mulden, Rücken, Senken, Höhen. Das flirrende Nachmittagslicht des nahenden Herbstes lässt das Grün changieren und kommende Rot- und Gelbtöne erahnen. Vom Himmel fällt Blau, weiße Wolken ziehen und der kühle Wind erinnert daran, dass wir uns mehr als tausend Meter über dem Meeresspiegel aufhalten. Wie so oft auf unserer Strecke folgen wir dem Tratturo, einem einstigen Schafweg, auf dem die Tiere zu den Weiden oberhalb der Dörfer zogen, oder der als Zuwegung zur großen Transumanza nach und von Apulien im Herbst und Sommer diente. Bevor wir Civitella Alfedena erreichen, liegt ein lang gezogener Anstieg vor uns, der uns von Schritt zu Schritt neue Ausblicke auf die Berge schenkt. Das Rauschen des Sangro werden wir erst morgen wieder hören.
 

Dienstag, 5. September, Civitella Alfedena nach Castel di Sangro

Fast eine Dekade war ich mit Gruppen zu Gast im ›Albergo Ai 4 Camosci‹ (›Zu den vier Gämsen‹) in Civitella Alfedena. Dann wurde es Zeit für einen Tapetenwechsel. Aber die freundschaftliche Beziehung zu Alfredo Antonucci, dem Besitzer des Albergo, blieb gewahrt. Entsprechend groß war die Freude, als wir uns wiedersahen. Alfredo ist im Hauptberuf Anästhesist im Krankenhaus von Castel di Sangro. Seinen Albergo hat er vor drei Jahren sehr aufwändig renovieren lassen. Auch bei uns gibt es eine Veränderung: Ulli fährt heim, Reinhard ist der Neue in unserer kleinen Gruppe. Wir wandern hinauf zum Waldrand und dann auf einem alten Holztransportweg in Richtung des Iananghera-Tals. Alte Buchen, Steinmauern, tiefer, weiter Waldraum. Düstere, erdige Passagen wechseln sich ab mit sonnendurchfluteten, grasigen Wegstücken. Aus dem Gebiet des Passes Forca Resuni rauscht der Iananghera-Bach herunter und über eine kleine Holzbrücke geht es weiter, bis Barrea in Sicht ist. Wir wollen nicht in den Ort absteigen, bleiben auf der Asphaltstraße, bis links ein Wanderweg abzweigt. Und treffen einen Ziegenhirten aus Barrea, der 250 Tiere hütet. Seine beiden Kinder Pietro und Italia betreiben die Fattoria. Gut zu wissen, wo frischer Ziegenkäse beziehbar ist, wenn ich wieder hier bin. Vier Hunde bewachen die Herde. Der Pastore selbst trägt einen langen Stock mit einem sichelähnlichen Abschluss unten. Der weitere Weg ist unspektakulär. Es geht über Trockenrasen mit teils hohem  Gras und über Stock und Stein, bis wir in der Tiefe der Ebene Alfedena und das mittlere Sangro-Tal erreichen. Der Sangro brach schon in Barrea an einem Wasserkraftwerk am Ende des Sees in eine tiefe Schlucht und scheint sich zu beeilen, den Nationalpark zu verlassen. Ob er ahnt, was ihm widerfahren wird? Wir staunen nicht schlecht, als sich auf unserem weiteren Weg nach Castel di Sangro herausstellt, dass der Fluss den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Flachlandes in einem Betonbett mit Schwellen fließen muss. Das will nicht recht passen, denn die abgeernteten Felder und Wiesen, über die wir, die Sonne im Rücken, fast zwei Stunden gehen, böten eigentlich genügend Fläche, Hochwasser aufzunehmen. Naturschützer/innen wissen, dass Wasserbauer weltweit zu den Spezies gehören, deren Werke oft eine schlimme Dramatik auslösen. Vielleicht sagten sie sich, dass der Sangro in seinem Oberlauf sowieso über die Stränge schlug und es jetzt an der Zeit ist, ihn zu bändigen. Wildnis kommt vor dem Fall.
In Castel di Sangro überstehen wir die Nacht im digitalisierten und wenig persönlichen Hotel am See. Nach all den wunderherrlichen Quartieren und Restaurants bisher ist es offenbar an der Zeit, uns den Abschied von den Abruzzen leicht zu machen. Die Karpfen im See übrigens ahnen nicht, wie gut sie es haben. Sie werden nicht gefangen, sie sind eingesetzt, um das Wasser rein zu halten. Walter, der technische Mitarbeiter des Hotels, kann es gar nicht fassen, dass wir in Deutschland Karpfen essen. Ich schicke ihm mal ein Rezept.

Mittwoch, 6. September, Castel di Sangro nach Roccasicura

»Il Molise non esiste« (»Den Molise gibt es nicht«) ist ein von dem Karikaturisten Leo Ortolani erfundener Slogan, den die Tourismusorganisationen der zweitkleinsten italienischen Region übernommen haben. Wir merken schnell, dass wir nicht mehr in den Abruzzen unterwegs sind, Landschaftsbild und Architektur ändern sich erkennbar. Unser gewohntes, romantisches, gebirgiges Italien schwindet. Während die Bergzüge des Hochapennins noch lange erkennbar blieben, erscheint es uns, in einer Mittelgebirgslandschaft zu wandern. Etwas hochnäsig assoziierte ich eine Art Mittelding zwischen der Schweiz und der Slowakei. Die Schweiz, weil die Häuser an Alpenbauten erinnern und die einsamen Gegenden der Slowakei, weil die soziale und kulturelle Infrastruktur löchrig wird. Wir erreichen Montalto, ein sich streckendes Dorf ohne Bar und fast ohne Menschen. Zwei alte Leute, die ein paar Schritte neben dem Kuckucksbrunnen in einer Ecke vor ihrem Haus sitzen und Bohnen säubern, begrüßen uns. Er war (wie oft hören wir das in den zwei Wochen unserer Wanderung!) vor über dreißig Jahren in Deutschland gewesen und hatte in Köln und Frankfurt gearbeitet. Sie amüsiert sich über unser Vorhaben, zu Fuß so weit zu wandern, bleibt aber so höflich, zu verschweigen, dass es mit dem Auto schneller ginge. Mir fällt seine schöne rote Brille auf — Italien ist immer einige Schritte weiter in Sachen Mode und Ästhetik. Am Ortsende schwindet meine Sympathie für Montalto gleich wieder. Ein Quertreiber hatte vor dem engen Durchlass zum Wanderweg einen unüberwindbar großen Haufen Holz abgeladen, eine schwarze Plane darüber gezogen und weil die Aktion schon vor einigen Jahren geschehen sein musste, ist die Böschung dahinter völlig zugewachsen. Wir suchen einen Umweg und finden ihn auf einer weiß gleißenden Forststraße, deren Kalksteinschotter die Augen blendet.
Viele Kilometer unterhalb weist uns die Navigation rechts ins Buschwerk und den Hang hinunter. Alsbald stecken wir im Dickicht zwischen Weberkarden, die höher sind als wir selbst, zwängen uns durch Weißdorn, Schlehen, Brombeeren und brüchiges Holz und hätte Hermann nicht die Ausdauer und Energie, auf den Meter genau der Route seines Displays zu folgen — wer weiß, ob wir nicht heute noch in dieser Wildnis unsere Kreise ziehen würden. Der Molise existiert also. Was uns hingegen über weite Distanzen abgeht, ist der Tratturo. Die Touristiker des Molise hatten den Einfall, die Strecken der alten Schafswege nach Apulien zu rekultivieren, um Wanderer/innen einzuladen, die Region zu entdecken. Wir folgten dieser Idee. Große Teile unserer gesamten Tour im Molise sind identisch mit den historischen Tratturo-Abschnitten. Dass es sich aber nur um kleine ausgebaute Abschnitte handelt, stand in der offiziellen Werbung nirgendwo zu lesen. Zu allem Überfluss und nur mit besonderer Ironie lesen wir auf einem Schild an einer der undurchdringlichsten Stellen des vorher beschriebenen Dschungels, dass akkurat jenes Stück ›Weg‹ durch die Europäische Union gefördert worden sei. Ob es Sinn machte, einmal mit Frau von der Leyen auf einem Unimog hier zu botanisieren? Zu Fuß wollte sie sicher nicht gehen.
Schließlich erreichen wir unser Tagesziel, das bezaubernde Örtchen Roccasicura und unser ebenso bezauberndes B & B. Frau Renata öffnet uns die Tür des alten Bürgerhauses, erkundigt sich nach unseren Frühstückswünschen (»italienisch oder salzig?«) und flugs ist vergessen, dass unsere Schrammen an Händen, Armen und Beinen schmerzen, dass wir schwitzen wie Rennpferde und dass wir hundemüde sind. Italien meint es wieder gut mit uns und der Molise existiert in aller Herzlichkeit.

Donnerstag, 7. September, Roccasicura nach Civitanova del Sannio

Da war noch die alte Dame, die uns gestern in Civitanova begegnete, bevor wir durch die schmale Türe des ›Borgo La Forgia‹ schritten. Sie traf uns wenige Meter vor dem Eingang der Kirche. Mag sein, dass sie ihr Gebetbuch in der Hand trug, ein Rosenkranz wäre ebenso denkbar gewesen. Mit allerliebster Stimme machte sie uns darauf aufmerksam, dass uns beim Besuch der Kirche die himmlische Gnade zuteil würde, und wir würden gebenedeit sein, weil die Gottesmutter ihren Segen über uns ausbreitete. Leise und fast zärtlich widmete sie uns ihre Vorschläge, wir bedankten uns mit ebenso freundlichen Worten und sagten den Kirchenbesuch zu. Heute morgen, bevor wir uns auf den Weg machen, betreten wir das barocke Kirchenschiff und treffen — die alte Dame. Sie sieht uns nicht, ist in ihr Gebet versunken, dabei sind nur fünf Personen in dem großen Raum: wir vier und sie.
Die Wanderroute selbst steht unter einem guten Stern, zumindest, bis wir kurz vor dem Ziel nur noch wenige Kilometer zu laufen haben. Dann verhält es sich wie mit dem gestern erwähnten Molisianer Motto. Der Tratturo und damit unser Weg verschwindet, endet, hört auf zu existieren. Dabei sollten wir doch eigentlich etwas oberhalb eines Sees, von den Bäumen eines Waldes behütet, mit Blicken auf das Gewässer weiter wandern. Wieder folgen wir unseren GPS-Displays, queren eine Wiese abwärts, steigen über graue, abgestorbene Baumreste dorthin, wo wir den See vermuten und stoßen alsbald auf des Rätsels Lösung. Der einstige Tratturo ist in der Erweiterung des Stausees verschwunden. Eine bizarre Situation! Wer die Platte ›Wish You Were Here‹ von Pink Floyd kennt und sich neben dem Außentitel des Covers an die weitere Bebilderung erinnert, hat vielleicht den legendären Unterkörper mit der Badehose vor Augen, der aus einer Art Salzsee herausragt. Wir sind in eine ähnliche Mondlandschaft geraten! Gut fünf Meter über der Wasserlinie ist die Umgebung in grauen Staub getaucht. April und Mai waren regenreiche Monate gewesen oder die Betreiber hatten den Pegelstand absichtlich angehoben. Dann sank das Wasser wieder und die feuchte Biomasse war ein idealer Staubfänger. Ein weiteres Abenteuer erwartet uns beim Ausstieg aus dem Tal. Wir klettern wie die Schulbuben bei Räuberspielen eine steile Böschung hinauf, unterscheiden bedächtig zwischen gefährlich und nicht gefährlich wirkenden Pfaden und stehen plötzlich in einem kleinen Wäldchen still, weil fünfzig Meter vor uns eine Wildschweinrotte quert. Gut dreißig Tiere, Frischlinge, Bachen und Überläufer in einem idealen Terrain. Etwa eine halbe Minute beäugen wir uns, bis die Schwarzkittel davon ziehen. Der Rest des Tages verläuft unspektakulär. Civitanova del Sannio kommt in Sicht und wir beeilen uns, auf die Piazza zu kommen. Dort stehen drei runde Tische, einer ist frei. Die Piazza selbst ist eine besondere. Fast quadratisch, von hohen Häusern begrenzt, kaum Durchgangsverkehr. Ein Heimspiel.

Freitag, 8. September, Civitanova del Sannio nach Castropignano

Je weiter wir in den Molise vordringen, desto mehr runzelt Rupert, der Landwirt, die Stirne und äußert sich besorgt: Es sei ein verwundetes Land, das in Gefahr ist, auszutrocknen, sagt er. In der Tat ist der Unterschied zu den Abruzzen signifikant. Trotz der bergigen Topografie wandern wir in Zonen, in denen großflächig Ackerbau betrieben wird. Wiesen sind rar, viele Flächen waren wohl einst mit üppigem Gras bewachsen, aber jetzt sehen wir über viele Kilometer nur Ackerschollen. Noch verwunderlicher sind immer wieder ›vergessene‹ Heuballen, die ob ihrer Größe kaum verrotten. Es liegt nicht nur daran, dass wir lieber im Wald unterwegs sind und der Bäume Dach Schutz und Wohlbefinden erzeugt. Die mittelgebirgige bis hügelige Landschaft des Molise macht es uns wegen der Trockenheit und ihrer Folgen nicht leicht, gedankenverloren durch sie zu stromern. Kaum Wald, soweit das Auge reicht. Und wie wichtig wären Wälder für das sich ändernde Klima! Auch die Speisekarten haben sich geändert. Es werden kaum mehr Gerichte mit Lammfleisch angeboten, dafür dominieren Secondi mit Rindfleisch und Schweinefleisch. Heute in Castropignano essen wir in einem Lokal, das mit ›Kilometro 0‹ nicht nur wirbt, sondern auch so heißt. Wir ersuchen den Wirt, uns eine Auswahl vegetarischer Antipasti zu kredenzen und werden nach einigem diskursiven Hin und Her bestens bedient. In angemessenem Takt servieren sie uns zunächst Platten mit verschiedenen Tomatensorten, als Salat angemacht und mit Thymian gewürzt, hiesige Feigen mit Rucola und einen Insalata di Farro (Farro ist Emmer oder Zweikorn, ein altes Kulturgetreide) mit Apfelscheiben und Staudensellerie. Eine Mozzarella di Bufala folgt, schließlich gebackene Zucchiniblüten und ein Topinampursalat. Fast hätte ich vergessen, dass weiße Bohnen in sämiger Soße auf Weißbrot den Gang eröffnen und eine Brotsuppe mit Tomaten, Zucchini und Auberginen das lukullische Crescendo beschließt. Dass wir noch unterschiedliche Primi genießen, der Hauswein vorzüglich ist und die süße Nachspeise alles vortrefflich abrundet, passt ins Konzept. Wir schlafen anschließend gut in unserem Hotel mit den zweihundert Zimmern …

 

Samstag, 9. September, Castropignano nach Campobasso

… und heute Morgen frühstücken wir in einem Saal, in dem wir uns ob der unzähligen leeren Stühle und Tische verloren vorkommen. Das Haus wird nur für große Gesellschaften geöffnet, doch war es mir gelungen, die Besitzerin am Telefon zu erzeugen, dass wir ohne ihre gute Tat im Freien übernachten müssten. Sie sagt uns gestern beim Einchecken, das Haus sei am morgigen Abend wegen einer Gesellschaftsfeier voll belegt. In Santo Stefano, dem letzten ›richtigen‹ Dorf vor den ausufernden Vororten Campobassos, treffen wir einen alten Herrn. Er will wissen, woher wir kommen (»Da dove venite?«). Weit in den Achtzigern, mit freundlichem Gesicht und lachenden Augen steht er vor seiner Garage. Er hätte von den zehn Jahren seines Aufenthalts in Deutschland sieben Jahre in München gearbeitet. Wie war doch diese Zeit wichtig für Europa, als sich die Menschen aus dem Süden nach Deutschland aufmachten! Sie waren Botschafter des Südens und wurden von uns oft sehr unleidlich behandelt. Was für ein Wunder: alle sind sie ohne böse Gedanken, voll guter Erinnerung und wir unterhalten uns wie wohlgesonnene Nachbarn. Vorher hatten wir an einem Wasserhahn unsere Trinkflaschen aufgefüllt, nun geht es eine Asphaltstraße steil bergan. Campobasso ist nicht mehr weit. Wir orientieren uns wieder am ehemaligen Tratturo, der hier wesentlich besser erhalten ist als anderswo. Um dreiviertel drei erreichen wir das Ortsschild von Campobasso und um kurz vor vier klingeln wir an unserer Herberge in der Via Marconi. War es Zufall oder Glück oder beides? Es ist eines der schönsten Quartiere, in denen ich jemals übernachtet habe. Alles stimmt. Die alte, riesengroße bürgerliche Wohnung und ihre Einrichtung, die zwischen italienischer Design-Moderne und klassischem Mobiliar oszilliert. Die höfliche und kultivierte Besitzerin und ihr Partner. Stefan Ulrich, früherer SZ-Korrespondent in Italien, hat ihr einige Seiten in seinem Buch »Und wieder Azzurro« gewidmet. 
Morgen fahren wir mit dem Bus nach Termoli und am Montag frühmorgens über Pescara, Bologna und München mit dem Zug zurück nach Regensburg. Damit endet auch der erste Teil unserer Wanderreise von Castel del Monte in den Abruzzen nach Castel del Monte in Apulien. Wir wollen sie nächstes Jahr fortsetzen, um schließlich vor der berühmten Burg Friedrichs II. zu stehen. 
A presto e arrivederci.
 

NACHTRAG

Zahlen

- Gelaufene Kilometer auf der Strecke von Castel di Monte in den Abruzzen nach Campobasso im Molise: 219
- Höhenmeter hinauf 5690
- Höhenmeter hinab 6340

Hier ist eine Übersichtskarte (klick)

DANK
an alle, die uns geholfen haben. Von Herzen.